12.05.2024
Der „Geruch von Weimar“ liege in der Luft, so wird der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann in diesen Tagen zitiert, befragt nach seiner Bewertung der Angriffe auf Politiker verschiedener Parteien in den letzten Tagen.
Es gibt keine lebenden Zeitzeugen mehr, die aus eigenem Erleben beschreiben können, wie insbesondere die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 dazu beigetragen hat, dass die Weimarer Republik keinen Bestand haben konnte. Aber wir wissen aus den Geschichtsbüchern, dass die parteipolitischen Auseinandersetzungen mit dem Auftauchen uniformierter, paramilitärischer Strukturen im Umfeld der 1920 gegründeten NSDAP sehr viel härter und brutaler wurden. Vor allem die SA, die Schlägertruppe der Nazis, entwickelte sich zu einer in braune Hemden gekleideten Massenorganisation, die die Aufmärsche der Nationalsozialisten organisierte und damit einen ganz erheblichen Anteil trug an der Radikalisierung der politischen Meinungsbildung in der Spätphase der Weimarer Republik und damit den Boden bereitete für Hitlers „Machtergreifung“.
Von einer solchen Entwicklung sind wir im 75. Jahr des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland weit entfernt. Ohne Zweifel, die politisch motivierten Übergriffe auf Abgeordnete und Wahlkreisbüros haben in den letzten Jahren zugenommen und ein Besorgnis auslösendes Maß angenommen. Aber das alles ist nicht „Weimar“. Die politische Mitte existiert – im Gegensatz zur Weimarer Republik – in großer Bandbreite, und von einer Massenorganisation ist die AfD ebenfalls weit entfernt. Das alles heißt aber nicht, dass wir uns nicht Gedanken machen müssen, wie wir denn mit der zunehmenden Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft umgehen müssen.
Politisch motivierte Gewalt trifft seit Jahren bevorzugt Mandatsträger auf der kommunalen Ebene. Deren Schutz kann – im Gegensatz zu Bundes- und Landespolitikern – die Polizei nicht pauschal übernehmen. Deshalb kommt es gerade auf der kommunalen Ebene darauf an, dass sich Kommunalvertreter untereinander um ein vernünftiges, an der Sache orientiertes Arbeitsklima bemühen und den parteipolitischen Streit in den Hintergrund treten lassen. Parteipolitische Meinungsunterschiede sind in der Landes- und Bundespolitik wie in der Europapolitik aber geradezu institutionelle Voraussetzung für unsere Demokratie. Das heißt nicht, dass nicht auch in der Landespolitik, in der Bundespolitik und in der Europapolitik Kompromisse möglich sein müssen, ja ebenfalls geradezu institutioneller Bestandteil unserer Demokratie sind. Kompromisse müssen auch unabhängig von politischen Mehrheiten möglich sein, vor allem dann, wenn es um wichtige politische Weichenstellungen geht, die länger halten sollen als eine Wahlperiode. Deshalb war es für die politische Stimmung im Land ein so schwerer Fehler der Ampel, das Wahlrecht in dieser Legislaturperiode mit knappen Mehrheiten gegen die Opposition durchzusetzen. Das war nicht nur schlechter Stil. Mit dem Wahlrecht der Ampel sollten die Spielregeln im eigenen Interesse verändert werden. Deshalb sind wir gegen dieses Wahlrecht nach Karlsruhe gegangen. Ein über Parteien und Fraktionen hinweg gemeinsam beschlossenes Wahlrecht wäre auch die Chance gewesen zu zeigen, dass sich die demokratischen Parteien der Mitte in wesentlichen Fragen unserer Demokratie noch einigen können. Wenn das nicht mehr möglich ist, dann werden die Ränder links und ganz rechts den Nutzen davontragen. Eine parlamentarische Demokratie setzt Gemeinsamkeiten in der Mitte voraus. Das Strafgesetzbuch allein ist dafür die falsche Gebrauchsanweisung.
Mit besten Grüßen
Ihr Friedrich Merz